Alle Exponentialfunktionen \(f_a(x)=a^x\) mit \(a>0\) gehen durch den Punkt \((0;1)\), denn \(f_a(0)=a^0=1\). Aber ihre Steigung im Punkt \((0;1)\) ist unterschiedlich.
Exemplarisch bestimmen wir die Steigung von \(f_2(x)=2^x\) und \(f_3(x)=3^x\) im Punkt \((0;1)\) näherungsweise mit dem Differenzenquotienten:
\( f'_2(0)\approx\frac{2^{0+0,01}-2^{0}}{0,01}\approx\frac{0,007}{0,01}=0,7 \\ f'_3(0)\approx\frac{3^{0+0,01}-3^{0}}{0,01}\approx\frac{0,011}{0,01}=1,1 \)
Wir können daher vermuten, dass es eine Zahl \(e\in\,]2;3[\) gibt, deren Exponentialfunktion \(f_e(x)=e^x\) im Punkt \((0;1)\) exakt die Steigung \(f'_e(0)=1\) hat. Das heißt, diese Funktion \(f_e(x)=e^x\) lässt sich für kleine x-Werte, also \(|x|\ll1\), durch eine Gerade mit der Steigung 1 sehr gut annähern, und die Näherung wird umso genauer, je näher x bei 0 liegt:
\( e^x=f_e(x)\approx f_e(0)+f'_e(0)\cdot x=1+x\quad;\quad |x|\ll 1 \)
Damit lässt sich die gesuchte Zahl e bestimmen:
\( e=e^1=e^{n/n}=\left(e^{1/n}\right)^n\approx\left(1+\frac{1}{n}\right)^n\quad;\quad n\gg1 \)
Je größer n wird, desto genauer kann \(e^{1/n}\) durch \(\left(1+\frac{1}{n}\right)\) angenähert werden. Für \(n\to\infty\) wird schließlich Gleichheit erreicht:
\( e=\lim\limits_{n\to\infty}\left(1+\frac{1}{n}\right)^n\approx2,718281828459045\ldots \)
Wir können nun schon den Wert von e berechnen und wissen, dass die Ableitung von \(e^x\) an der Stelle ß(x=0\) exakt den Wert 1 hat. Nun bestimmen wir die Ableitung von \(f_e(x)=e^x\) für alle beliebigen Werte \( x\in\mathbb{R} \):
\( \left(e^x\right)^\prime=f'_e(x)=\lim\limits_{h\to0}\frac{e^{x+h}-e^x}{h}=\lim\limits_{h\to0}\frac{e^x\cdot\left(e^h-1\right)}{h}=e^x\cdot\underbrace{\lim\limits_{h\to0}\frac{e^{0+h}-e^0}{h}}_{=f'_e(0)=1}=e^x \)
Die Ableitung von \(e^x\) ist also an allen Stellen \(x\in\mathbb{R}\) gleich ihrem Funktionswert:
\( \left(e^x\right)^\prime=e^x ~ ; ~ x\in\mathbb{R} \)
Wegen dieser Eigenschaft heißt die Funktion \(f_e(x)=e^x\) auch die Exponentialfunktion.
Nun untersuchen wir, ob und wie sich \(f_e(x)=e^x\) als Potenzreihe darstellen lässt:
\( e^x=\sum\limits_{n=0}^\infty a_nx^n\quad;\quad a_n\in\mathbb{R}\quad;\quad x\in\mathbb{R} \)
Aus der Bedingung \(f_e(0)=e^0=1\) folgt, dass \(a_0=1\) gewählt werden muss. Die anderen Koeffizienten erhalten wir aus der Feststellung, dass die Ableitung von \(e^x\) mit sich selbst übereinstimmen muss:
\( \left(e^x\right)^\prime=\sum\limits_{n=0}^\infty na_nx^{n-1}=\sum\limits_{n=1}^\infty na_nx^{n-1}=\sum\limits_{n=0}^\infty (n+1)a_{n+1}x^{(n+1)-1} \)
\( \phantom{\left(e^x\right)^\prime}=\sum\limits_{n=0}^\infty (n+1)a_{n+1}x^n \)
Koeffizientenvergleich mit der angesetzen Reihendarstellung von \(e^x\) liefert die Beziehung \(a_n=(n+1)a_{n+1}\) für alle \(n\ge0\). Zusammen mit \(a_0=1\) erhalten wir folgende Rekursionsformel:
\( a_{n+1}=\frac{a_n}{n+1}\quad;\quad a_0=1 \)
Diese wird gelöst durch \(a_n=\frac{1}{n!}\) für alle \(n\ge0\), sodass:
\( e^x=\sum\limits_{n=0}^\infty\frac{1}{n!}\,x^n\quad;\quad x\in\mathbb{R} \)
Anmerkung
Die Potenzreihen-Darstellung ist kein mathematisch exakter Beweis, da bei unendlichen Summen stets Konvergenzfragen auftauchen. Soll die Summe für alle reelle Zahlen \(x\in\mathbb{R}\) endlich sein, so müssen die Koeffizienten \(a_n\) in ihrem Betrag schnell genug gegen Null konvergieren, um die für \(|x|>1\) schnell wachsenden Potenzen \(x^n\) zu kompensieren.
Ist die Konvergenz für alle reellen Zahlen gegeben, so kann man Potenzreihen in vielerlei Hinsicht so behandeln, als wären sie Polynome. Das zu zeigen würde aber den Rahmen hier sprengen. Auch gibt es noch viele weitere Eigenschaften von der Exponentialfunktion \(e^x\), denen man ganze Vorlesungen widmen kann.