Besonders in der numerischen Mathematik werden Berechnungsvorschriften für Funktionswerte benötigt. Eine Funktion wie sin(x) ist bezüglich ihrer Eigenschaften wohl bekannt, nicht bekannt ist aber á priori der Funktionswert von z.B. sin(2,2124). Die meisten gebräuchlichen Funktionen liegen tabelliert vor, so dass „krumme“ Werte des Definitionsbereiches durch Interpolation gewonnen werden können. Was aber, wenn die Funktion nicht tabelliert vorliegt?
MACLAURIN (Colin MACLAURIN, 1698-1746) hat für differenzierbare und stetige analytische Funktionen (analytisch – zerlegbar) eine Methode zur Berechnung von Funktionswerten in der Nähe von bereits bekannten Funktionswerten angegeben.
Analytische Funktionen können als Summe einer Potenzreihe entwickelt werden:
\( f(x) = {a_0} + {a_1} \cdot x + {a_2} \cdot {x^2} + {a_3} \cdot {x^3} + \,.... = \sum\limits_{n = 0}^\infty { {a_n} \cdot {x^n} } \) Gl. 183
Es ist bemerkenswert, dass allein die Koeffizienten an über das Wesen der Funktion f(x) entscheiden! Daher ergibt sich die Frage, wie die an zu bestimmen sind, damit sie eine vorgegebene Funktion richtig abbilden?
Entwicklungsvorschrift nach MacLaurin
Die Funktion f(x) wird um den Punkt x = 0 in eine Reihe entwickelt. Die Aufgabe besteht darin, die unbekannten Koeffizienten an zu bestimmen. Dafür ist es zweckmäßig, die in der Summenformel (Gl. 183) aufgeführten Terme zu vereinzeln, um so für jedes an eine Bestimmungsgleichung aufstellen zu können. Dies geschieht dadurch, dass durch fortwährende Differenziation eine gliedweise Vereinzelung erfolgt. Angefangen wird mit dem konstanten Glied a0, indem der Funktionswert an der Stelle x = 0 eingesetzt wird. Alle Potenzen von x verschwinden dadurch:
\( f(0) = {a_0} + {a_1} \cdot 0 + {a_2} \cdot {0^2} + {a_3} \cdot {0^3} + \,.... = {a_0} \quad \Rightarrow \quad {a_0} = f(0) \) Gl. 184
Für die Bestimmung der weiteren Koeffizienten wird f(x) der wiederholten Differenziation unterzogen. Das konstante Glied a0 verschwindet infolge der Differenziation, während vom Glied a1·x infolge der Differenziation nur noch a1 übrig bleibt:
\( f'(x) = {a_1} + 2{a_2} \cdot {x^1} + 3{a_3} \cdot {x^2} + \,.... \) Gl. 185
Wieder erfolgt die Betrachtung für die Stelle x = 0:
\( f'(0) = {a_1} + 2{a_2} \cdot {0^1} + 3{a_3} \cdot {0^2} + \,.... = {a_1} \quad \Rightarrow \quad {a_1} = f'(0) \) Gl. 186
Nochmaliges Differenzieren:
\( f''(x) = 2{a_2} + 3 \cdot 2 \cdot {a_3} \cdot {x^1} + \,.... \) Gl. 187
Wieder erfolgt die Betrachtung für die Stelle x = 0:
\( f''(0) = 2{a_2} + 3 \cdot 2 \cdot {a_3} \cdot {0^1} + \,.... = 2{a_2} \quad \Rightarrow \quad {a_2} = \frac{1}{2}f''(0) \) Gl. 188
usw. schließlich ergibt sich die Berechnungsvorschrift allgemein zu:
\( {a_n} = \frac{1}{ {n!} } \cdot {f^{(n)} }(0) \quad \text{ wobei } 0! = 1 \) Gl. 189
Damit wird Gl. 183 zu
\( f(x) = f(0) + \frac{ {f'(0)} }{ {1!} } \cdot x + \frac{ {f''(0)} }{ {2!} } \cdot {x^2} + \frac{ { {f^{\left( 3 \right)} } } }{ {3!} } \cdot {x^3} + \,.... = \sum\limits_{n = 0}^\infty {\frac{ { {f^{\left( n \right)} } } }{ {n!} } \cdot {x^n} } \) Gl. 190
Dies ist die MacLaurinsche Form der in eine Potenzreihe entwickelten Funktion f(x).
Beispiel:
Es sei die Funktion sin(x) an der Stelle x = 0 zu entwickeln.
\(\sin (x) = \sin (0) + \cos (0) \cdot x - \frac{1}{2}\sin(0) \cdot {x^2} - \frac{1}{6}\cos (0) \cdot {x^3} + \,\frac{1}{ {24} }\sin (0) \cdot {x^4} + \frac{1}{ {120} }\cos(0) \cdot {x^5}.... \)
\( \sin (x) = 1 \cdot x - \frac{1}{6} \cdot {x^3} + \,\frac{1}{ {120} } \cdot {x^5}.... = \sum\limits_{n = 0}^\infty { { {\left( { - 1} \right)}^n}\frac{1}{ {(2n + 1)!} } \cdot {x^{2n + 1} } } ; \)
Nunmehr sei der Wert für x = 1,2 (beachte x ist der Winkel im Bogenmaß!) zu ermitteln.
Der Taschenrechner liefert einen Wert sin(1,2)= 0,932039085967226
Entwicklung nach Taylor
In vielen Fällen stellt die Beschränkung auf den Punkt x = 0 ein schweres Hindernis für die Lösung bestimmter Aufgaben dar. Daher ist eine gleichwertige Entwicklung einer Funktion um den Punkt x = x0 gesucht. Die damit verbundene Verallgemeinerung der Reihenentwicklung ist nach dem englischen Mathematiker TAYLOR (Brook TAYLOR, 1685-1731) benannt. Analog zu den Überlegungen für die Herleitung der Näherungsformel 1. Ordnung (Gl. 103) wird in Gl. 183 die folgende Substitution vorgenommen:
\( x \to x - {x_0} \) Gl. 191
\( f(x) = {a_0} + {a_1} \cdot (x - {x_0}) + {a_2} \cdot {(x - {x_0})^2} + {a_3} \cdot {(x - {x_0})^3} + \,.... = \sum\limits_{n = 0}^\infty { {a_n} \cdot { {(x - {x_0})}^n} } \) Gl. 192
Dann verschwinden die höheren Potenzen der Potenzreihe nach der Differenziation wenn x → x0, so dass der gewählte Lösungsalgorithmus zur Bestimmung der an ebenfalls greift. Die Berechnung der Koeffizienten erfolgt dann nach
\( {a_n} = \frac{1}{ {n!} } \cdot {f^{(n)} }({x_0}) \) Gl. 193
So ist z.B. die Wahl von x0 = 1 sinnvoll für die Entwicklung der Logarithmusfunktion, denn der log(0) ist nicht definiert!
Beispiel:
Es sei die Funktion ln(x) an der Stelle x = 1 zu entwickeln.
\( \ln (x) = \ln (1) + \frac{1}{1} \cdot \left( {x - 1} \right) - 1 \cdot \frac{1}{2} \cdot {\left( {x - 1} \right)^2} + 2 \cdot \frac{1}{6} \cdot {\left( {x - 1} \right)^3} - \,6 \cdot \frac{1}{ {24} } \cdot {\left( {x - 1} \right)^4} \)
\( \ln (x) = \left( {x - 1} \right) - \frac{1}{2} \cdot {\left( {x - 1} \right)^2} + \frac{1}{3} \cdot {\left( {x - 1} \right)^3} - \,\frac{1}{4} \cdot {\left( {x - 1} \right)^4} \)
\( \ln (x) = \sum\limits_{n = 1}^\infty { { {\left( { - 1} \right)}^n}\frac{1}{n} \cdot { {\left( {x - 1} \right)}^n} } \) Konvergenzradius x < 1
Für x = 1 wird ln(1) = 0 korrekt geliefert.
Für x = 0.5 liegt der Fehler für n = 10 unter 0,0004.